Platons Höhlengleichnis ist zeitlos. Auch heute entdecke ich schon bei grober Überlegung facenrette Anwendungsmöglichkeiten. Das Höhlengleichnis beinhaltet viele interpretations- und standpunktabhängige Botschaften. Natürlich nur, solange der Mensch ein offenes Ohr hat. Egal auf welche Situation ich es anwende, ich finde stets Möglichkeiten, Missstände unserer heutigen Zeit auf die abstrakte Erzählung abzubilden und entdecke mögliche Auswege.

Das Höhlengleichnis ist unter anderem eine Botschaft von Verständnis. Eine Botschaft, die Tugenden wie Geduld und Durchhaltevermögen vermitteln möchte.

Betrachten wir einmal den Vegetarismus: Für diejenigen, die sich aus moralischen Gründen vegetarisch ernähren, steht dahinter die Idiologie, dass jegliche Lebewesen (nicht nur die der Erde) die selben Rechte und Freiheiten besitzen sollen. Dies impliziert Antworten auf verschiedenste Fragen: Darf man Menschen töten? Darf man Tiere töten? Benötigen wir überhaupt eine begriffliche Unterscheidung zwischen “Tier” und Mensch, wenn dieser rein wissenschaftlich gesehen, genauso ein Tier ist? Nur wer für sich selbst klare Antworten auf diese Fragen gefunden hat, kann sich aus Überzeugung zum Vegetarismus oder sogar Veganismus bekennen. Finden erfordert jedoch eine vorherige Suche, also das Konfrontieren mit dem Thema und dem Stellen unangenehmer Fragen.

Der Vegetarismus, als ein Thema unter vielen, zeigt mir in Gesprächen immer wieder auf, wie schwierig es sich für den Menschen gestaltet, sich unter Vertretung unterschiedlicher Weltanschauungen auf Kompromisse zu verständigen und wie wenig bereit der menschliche Geist ist, von seinem gelernten Weltbild abzuweichen.

Eines der Kern-Probleme beim alleinigen Thematisieren des Vegetarismus oder Veganismus ist, die gegenseitige Abwehrhaltung, die die Gesprächspartner im Allgemeinen sofort einnehmen. Vegetarier vertreten in der Öffentlichkeit eine teils unpopuläre und ungewohnte Idiologie, die sie selbst für sich als Wahrheit entdeckt haben. Als Konsequenz folgt jedoch, dass die Lebensweise und Weltanschauung der Mehrheit der menschlichen Bevölkerung nicht wahr, eben falsch ist. Es ist leider nur allzu oft so, dass alle Beteiligten in dieser Situation ihre Arme verschränken. Der Vegetarier versucht erfolglos seine Wahrheit mit seinen Mitmenschen zu teilen und verzweifelt an deren “Ignoranz”. Auf der anderen Seite führt die indirekt geäußerte Kritik an der gelebten Norm bei den allermeisten Menschen zu einer Defensivhaltung und damit zu einer vollkommenen Vergeblichkeit der diplomatischen Bemühungen.

Eine solche Diskussion kann nur erfolgreich sein, wenn beide Seiten bereit sind, ihr eigenes Weltbild zu hinterfragen und gegebenfalls von ihrer Position abzuweichen. Allzu oft ist dies nicht der Fall und Gespräche führen lediglich zu Frust und zu verhärteten Fronten.

Diese Situation kann man auch im Höhlengleichnis entdecken. Die Gefangenen leben in einer Höhle, einer abstrahierte Wahrnehmung der Realität oder wie Platon es formuliert, dem reinen Guten oder Geistigen. Menschen, die die Höhle verlassen und mühsam lernen müssen, dass ihr bereits gelebtes Leben auf Pfeilern gegründet war, die lediglich ein Abbild der Realität sind, kehren zurück zu ihren Mitmenschen mit ihren neuen Erkenntnissen und Wahrheiten. Doch die Menschen in der Höhle sind nicht etwa dankbar für die neue Botschaft, sondern vielmehr sind sie verschreckt und bereit, zukünftige Messias kaltblütig ruhigzustellen. Dies ermöglicht ihnen, ihr Scheinleben zu bewahren ohne ihre Grundfeste hinterfragen zu müssen.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist, dass der in die Höhle Zurückkehrende seinen Standpunkt behutsam und diplomatisch darlegt und auch bereit ist, dafür Zeit und Schweiß aufzubringen. Ungeduld ist wenig hilfreich, aber Verständnis umso mehr. Ein vorschnelles Verurteilen der Mitmenschen wird keinen Fortschritt erzielen.

Andererseits ist es für jeden Menschen unerlässlich, kritikfähig zu werden und sich auch oder gerade mit unbeliebten Weltanschauungen auseinanderzusetzen und sie zumindest logisch nachvollziehen und die Beweggründe dahinter verstehen zu können. Oft geht es nämlich viel weniger darum, penibel und konsequent eine Idiologie zu befolgen und sich sehr stringenten Regeln zu unterwerfen, als viel mehr darum, den in einer Idiologie steckenden wahren Kern zu ergründen, und für sich selbst zu erkennen, wo die individuellen Grenzen liegen. Diese Herangehensweise an ein solch grundlegendes Thema führt automatisch zu mehr Diplomatiebereitschaft auf beiden Seiten, da die zu schlagende Brücke zwischen den Standpunkten kleiner wird.